AWA – Aktueller Wirtschaftsdienst für Apotheker

Viele sind erschöpft, frustriert und systemmüde

Interview mit Stefan Burr, s.s.p. Die Apothekenvermittler.

Die in Fürth ansässige s.s.p. Wirtschaftsberatung zählt zu den führenden Begleitern beim Apothekenverkauf. Damit sind die Franken mit den Kennziffern deutscher Apotheker ebenso vertraut wie mit deren “Pain Points”. Wo die genau sitzen, erläutert Geschäftsführer Stefan Burr.

Wie viele Apotheken befinden sich aktuell im Verkaufsprozess von s.s.p.?

Burr: Zurzeit haben wir rund 120 Apotheken in der Vermittlung, wobei sich noch nie so viele verkaufswillige Apothekeninhaber bei uns gemeldet haben wie in den letzten 2 Jahren. Durchschnittlich nehmen wir 80 bis 100 neue Objekte pro Jahr in die Vermittlung auf – mit einer starken Spreizung von Apotheken im mittleren achtstelligen Umsatzbereich bis hin zu kleinen, aber dennoch vermittelbaren Offizin mit 2 Mio. € Jahresumsatz.

Etwa die Hälfte aller Apotheken, die wir aufnehmen, sind in einem Topzustand, bei der anderen Hälfte besteht akuter Handlungsbedarf.

Warum verlieren immer mehr Apothekeninhaber die Lust an der Selbstständigkeit? Was sind ihre stärksten “Pain Points”?

Burr: Viele Apothekeninhaber, die verkaufen wollen, sind erschöpft, frustriert und systemmüde – und oft näher am Burnout, als ihnen wahrscheinlich bewusst ist. Die größten Belastungsfaktoren sind erstens der chronische Personalmangel und die damit oft einhergehende Arbeitszeitbelastung, zweitens das Gefühl des politischen Ausgeliefertseins und drittens die Herausforderungen der Digitalisierung. Gerade ältere Inhaber haben oft keine Lust mehr, sich mit Themen wie dem E-Rezept auseinanderzusetzen.


Viele sehen das E-Rezept als Konjunkturprogramm für die niederländischen Versender, wobei auf das Schneckentempo bei der Digitalisierung unseres Gesundheitssystems bislang zum Glück genauso viel Verlass ist wie die Unpünktlichkeit deutscher Züge …

Burr: Und das deutsche Apothekensterben hatten wir auch schon vor dem Start des E-Rezepts.


Dominieren altersbedingte Verkäufe, oder treiben Ihnen Erschöpfung, Frust und Systemmüdigkeit zunehmend auch jüngere Inhaber in die Arme?

Burr: Etwa 60% unserer Kunden befinden sich im grundsätzlich abgabefähigen Alter – also zwischen 58 und 65 Jahren. Hier gilt es zu bedenken, dass der Verkauf eines Unternehmens ab einem Alter von 55 Jahren deutlich steuerbegünstigt ist, und hier geht es um eine Menge Geld. Dennoch hat sich die Zahl derjenigen, die jünger als 55 sind und ihre Offizin dennoch verkaufen wollen, in den letzten zwei Jahren fast verdoppelt. Das spricht für sich.


Wie oft lehnen Sie ein Verkaufsmandat ab, weil eine Apotheke nach Ihrer Einschätzung unverkäuflich ist? Ist das für die Apothekeninhaber in der Regel eine Schocknachricht, oder sind diese sich der Situation meist bewusst?

Burr: Allein in der vergangenen Woche haben wir vier Mandate abgelehnt, pro Jahr sind es zwischenzeitlich 30 bis 50. Mir tut das als Unternehmer insofern weh, als dass wir vier Aufträge weniger als grundsätzlich möglich im Haus haben. Aber wir nehmen niemandem Geld ab für eine Sache, an deren Erfolg wir nicht glauben. Hoffnungen machen, wo es keine gibt, ist gegen die Kaufmannsehre und kommt für uns daher nicht in Frage.

Richtig geschockt sind vielleicht 30% der betroffenen Apotheker. Häufig hingegen kommt die Aussage “Damit habe ich ehrlicherweise schon gerechnet – aber ich wollte nichts unversucht lassen”.


Wie stark hat sich der Anteil an “unverkäuflichen” Apotheken in den letzten 15 Jahren erhöht?

Burr: Noch vor vier Jahren (2018) haben wir kaum Mandate wegen fehlender Erfolgsaussichten abgelehnt. Heute sind es wie ich bereits erwähnt habe, zwischen 30 und 50 Absagen im Jahr.


Worin sehen Sie die gravierendsten Veränderungen im deutschen Apothekenmarkt in den letzten 15 Jahren?

Burr: Am gravierendsten ist für mich, dass sich der Apothekenmarkt in den letzten 15 Jahren um 180 Grad gedreht hat – von einem Verkäufer- zu einem Käufermarkt. Als Apotheker ab 2004 hierzulande neben ihrer Hauptapotheke noch bis zu drei weitere als Filiale betreiben durften, war die Nachfrage riesig: Es war einfach schick, eine Filiale zu haben, zudem saß das Geld damals noch locker, und so wurden zahlreiche Apotheken gekauft, ohne die Zahlen genauer unter die Lupe zu nehmen.

Ab 2007 sickerte langsam die Erkenntnis durch, dass nicht jede Filialapotheke automatisch schwarze Zahlen schreibt. Damit setzte eine Entwicklung ein, die bis heute anhält: Der notwendige Nettoumsatz, um als Apotheke profitabel zu wirtschaften, stieg von Jahr zu Jahr, zugleich begannen die Kaufpreise zu sinken.

Heute ist der Apothekenmarkt ein typischer Käufermarkt: Das Angebot ist größer als die Nachfrage, also sind die Käufer regelhaft in der besseren Verhandlungsposition. Und sie schauen genauer hin als früher. Ausnahmen bestätigen freilich die Regel: So unterliegen Apotheken mit einem Jahresnettoumsatz ab 3,5 Mio. € nach wie vor einer starken Nachfrage. Dagegen ist es für Apotheken mit einem Jahresnettoumsatz unter 2 Mio. € heute kaum noch möglich, einen Käufer zu finden.


Sie sprechen von Jahresumsatz, viel entscheidender ist aber doch der Ertrag, den die Apotheke abwirft: Was nützen mir Umsatzerlöse von 5 Mio. €, wenn ich z.B. meine Kosten nicht im Griff habe und letztlich nur Geld wechsle?

Burr: Grundsätzlich haben Sie natürlich Recht. Und es gibt in der Tat umsatzstarke Apotheken, bei denen unterm Strich wenig hängen bleibt. Andersrum betrachtet gibt es nach meiner Erfahrung aber nur wenige Apotheken, die zwar klein, aber dennoch ertragsstark sind: Aber auch für diese gilt eine Untergrenze, die ich bei 1,8 Mio. € Jahresnettoumsatz ansetzen würde.

Ertrag ist im Übrigen auch nicht gleich Ertrag: Worauf es entscheidend ankommt, ist das “übertragbare Betriebsergebnis” nach Abzug von Zins und Tilgung für die Kaufpreisrückführung. Hier gibt es auch viele Mogelpackungen: Wenn ich als Apothekeninhaber beispielsweise 90 bis 100 Wochenstunden arbeite und für die eigenen Apothekenräume keine adäquate Miete ansetze, lüge ich mir selbst in die Tasche …


Welche sind denn Ihrer Erfahrung nach die entscheidenden Punkte aus Käufersicht, sich für eine Apotheke X zu entscheiden, und eine Apotheke Y links liegen zu lassen? Gibt es – bei aller Unterschiedlichkeit von Standort, Kundenstruktur und Profil einer Offizin – eine übergeordnete “Hitliste” von Faktoren, die einen Verkauf begünstigen?

Burr: Die gibt es tatsächlich: Ganz oben steht (1) die Lage, gefolgt von (2) der Ärztesituation (Anzahl, Alter, Nachfolgeregelung), (3) der bestehenden Personalstruktur sowie (4) der Personalverfügbarkeit. Erst danach folgen dann die betriebswirtschaftlichen Kennziffern mit (5) Nettoumsatz, (6) Rohertrag, (7) übertragbarem Betriebsergebnis und (8) Mietvertragskonditionen (insbesondere Laufzeit und Mietzins).

Auch wenn es merkwürdig klingt. Wenn alle anderen Parameter stimmen, dann ist der Kaufpreis ein Nebenkriegsschauplatz!


Das Handelsmantra “Lage, Lage, Lage” scheint demnach – zumindest für die Apothekenbranche – nichts an Aktualität eingebüßt zu haben …

Burr: Im Gegenteil: Vor 15 Jahren hatte der Standort einen viel geringeren Stellenwert als heute. Damals war die Nachfrage hoch, und so wurden Apotheken mehr aus Emotion gekauft als auf Basis einer nüchternen Standort- und Wirtschaftlichkeits-Analyse. Auch war es damals noch möglich, ungenutztes Potenzial eines Standorts in den Kaufpreis einzurechnen.

Diese Zeiten sind längst vorbei. Heute werden zwar auch noch Potenzialstandorte gekauft – aber nicht mehr bezahlt. Bezahlt wird nur noch, was ohne Glaskugel bewertet werden kann. Leider gibt es aber auch Beispiele von Apotheken in bester Lage, die von ihrem Inhaber ins Grab geführt werden: Das liegt oft daran, dass kaum Geld reinvestiert wird und das Erscheinungsbild dementsprechend “gruselig” ist …


Werfen wir einen detaillierten Blick auf die Kaufinteressenten. Laut Ihrer Website umfasst der s.s.p. Käuferpool zurzeit 3.712 registrierte Interessenten, davon 1.463 Existenzgründer und 2.249 Filialsuchende. Das klingt mir gar nicht nach typischem Käufermarkt mit starkem Angebotsüberhang?

Burr: 3.700 in unserer Börse gelistete Suchende sind in der Tat nicht wenig – ganz im Gegenteil – und darauf sind wir auch stolz. Allerdings muss man genauer hinschauen: So gibt es bei den Filialsuchenden einen Anteil von 5% bis 10%, die nur interessiert sind, was sich in ihrem Umfeld tut – ohne wirkliches Kaufinteresse.

Und bei den Existenzgründern gibt es eine große Bandbreite – vom 28-jährigen Apotheker, der sich erstmals mit der Selbständigkeit beschäftigt, bis hin zum 40-Jährigen mit Filialleitungserfahrung, der bereits seit drei Jahren nach einem passenden Kaufangebot sucht.


Was ist die wichtigste Motivation der gut 3.700 Interessenten, durch die Übernahme einer Apotheke den Sprung in die Selbständigkeit zu wagen?

Burr: Bei den Existenzgründern steht für mehr als zwei Drittel (70%) die Chance im Vordergrund, deutlich mehr Geld verdienen zu können als im Angestelltenverhältnis. Gerade Filialleiter haben oft das Gefühl, dass sie zwar den Laden am Laufen halten, der Chef aber das große Geld verdient. Ebenfalls ein wichtiger Grund ist die Selbstverwirklichung: Man möchte der eigene Chef sein und es besser machen. Manche “müssen” auch ihr eigener Chef sein, weil sie nur bedingt teamfähig sind.

Auch für Filialkäufer ist die Perspektive eines deutlich höheren Einkommens ein starker Anreiz. Aber auch die Standortoptimierung sowie eine gezielte Verdrängung der Konkurrenz, um Platzhirsch in seinem “Revier” zu werden, sind wichtige Motivationen für diese Käufergruppe.


Wieviel Leidensfähigkeit muss man mitbringen, wenn man sich heute als Apotheker bzw. Apothekerin selbstständig machen will?

Burr: Ich muss als Apothekengründer schon leidensfähig sein, aber nicht mehr als Selbstständige in anderen Branchen auch. Wenn ich wirklich wie ein Unternehmer agiere, dann kann ich mit einer eigenen Apotheke auch heute noch sehr erfolgreich sein – das ist meine feste Überzeugung!

Vieles funktioniert in unserer Branche aber auch sehr gut, das wird nur leider oft übersehen: So habe ich als Apotheker allein durch die ärztlichen Verordnungen ein starkes “Grundrauschen”, was es in den meisten anderen Branchen in dieser Form nicht gibt.


Was sind denn – um im Bild zu bleiben – zurzeit die stärksten “Schmerzquellen” für selbstständige Apotheker? Der politische Zickzack-Kurs, die überbordende Bürokratie oder die Online-isierung des Handels verbunden mit zunehmend verödenden Innenstädten?

Burr: Die Gesundheitspolitik mit ihrer aktuell niedrigen Wertigkeit von Apotheken ist für viele stark demotivierend: Als selbstständiger Apotheker muss ich mich (hoch) verschulden und brauche deshalb Planungssicherheit. Genau diese wird mir seitens der Politik aber verwehrt …

Genauso demotivierend ist die überbordende Bürokratie, die so nervenaufreibend ist, dass alleine deswegen immer mehr Apothekeninhaber den Entschluss fassen, ihre Offizin zu verkaufen. Hinzu kommt die zunehmende Verödung der Innenstädte, die sich durch die Corona-Pandemie noch zusätzlich verschärft hat. Die Welt wird digitaler – ob uns das passt oder nicht.

Der zunehmende Online-Handel hat nach meiner Einschätzung bislang aber kaum dazu beigetragen, dass Vor-Ort-Apotheken an Attraktivität eingebüßt haben. Zumindest schlägt sich das in unseren Erfahrungen bis jetzt nicht nieder.


Stichwort digitale Welt: Wie stark fließt die digitale Positionierung von Apotheken in deren Bewertung ein?

Burr: Bislang spielt diese als Bewertungskriterium noch so gut wie keine Rolle. Ich kann mir aber gut vorstellen, dass sich das in den nächsten Jahren deutlich ändern wird.


Sind die 3.700 Kaufwilligen aus dem s.s.p.-Pool kaufmännisch ausreichend vorbelastet, um langfristig erfolgreich ein eigenes Unternehmen zu führen?

Burr: Um ehrlich zu sein, gibt es aus betriebswirtschaftlicher Sicht in der Branche schon einiges an Luft nach oben. Ich bin überzeugt, dass ein selbstständiger Apotheker zu 70% Unternehmer und nur zu 30% Pharmazeut sein muss, um erfolgreich zu sein!

Aufgrund des Faktors Mensch, den man nie unterschätzen sollte, kann auch die beste Apotheke von heute auf morgen gnadenlos abstürzen.

Und wirtschaftlicher Erfolg bedeutet nicht, dass ich als Apothekeninhaber gerade mal so viel verdiene wie die Approbierten, die bei mir angestellt sind. Man braucht ein um mindestens 50% höheres Einkommen, damit es sich lohnt und die Rechnung wirklich aufgeht. Das sollten Sie als Risikopuffer einkalkulieren, weil Sie ja auch die komplette wirtschaftliche Verantwortung tragen.


Sie haben in den letzten 15 Jahren in die Bücher unzähliger Apothekeninhaber geschaut und mit ihnen gesprochen: Was macht Ihres Erachtens (im wirtschaftlichen Sinn) den Hauptunterschied zwischen einem erfolgreichen Apotheker aus und einem solchen, der gerade so über die Runden kommt?

Burr: Die Zeit ist so schnelllebig geworden, deshalb muss man ständig am Ball bleiben, und sein Unternehmen wirklich aktiv managen, um erfolgreich zu sein. Genau das macht meines Erachtens den Unterschied aus: Es gibt diejenigen Inhaber, die 80 Wochenstunden und mehr arbeiten, nie Zeit haben, ausgebrannt sind und bei denen alles immer schwierig ist. Es gibt aber auch die anderen, die strategisch unterwegs sind und denen scheinbar alles leicht von der Hand geht.

Entscheidend ist meines Erachtens, aus dieser Tretmühle rauszukommen. Das schafft man nur, wenn man delegieren und managen lernt: Ich sollte als Apothekeninhaber zwar über alles Wichtige Bescheid wissen, aber um Himmels willen nicht alles selbst machen wollen. Wie soll denn das gehen? Genau das versuchen aber viele.

Wenn man diesen Schritt alleine nicht schafft, was in der Tat nicht ganz einfach ist, sollte man unbedingt externe Unterstützung suchen – sei es über die Angebote der Branchenkooperationen oder ein entsprechendes Coaching.


Was hat Sie in den letzten Jahren am meisten überrascht? Gibt es Entwicklungen, die Sie in dieser Form nicht erwartet hätten?

Burr: Auffallend ist, dass wir für Objekte, die schwer zu vermitteln sind, oft doch noch einen Käufer finden: Das sind dann in vielen Fällen Apotheker mit Migrationshintergrund – häufig Syrer. Die packen ihre Chance am Schopf, durch den Sprung in die Selbstständigkeit 150.000 € und mehr pro Jahr verdienen zu können – nicht selten das Dreifache dessen, was sie als angestellte Apotheker bekommen könnten. Dafür nehmen sie gerne in Kauf, auch 10 bis 14 Stunden täglich zu arbeiten. Zumal wenn der Kaufpreis stimmt und sie diesen innerhalb weniger Jahre zurückbezahlen können.

Das Interview führte Dr. Hubert Ortner
Quelle: AWA – Allgemeiner Wirtschaftsdienst für Apotheker
Ausgabe Oktober 2022